Wie alles begann
Als Noemi am 11. August 2018 geboren wurde, ging es uns, Clemens und Maxi, wie allen frisch gebackenen Eltern – wir waren im siebten Himmel. Noemi war für uns das süßeste Baby auf der ganzen Welt. Und natürlich waren wir gespannt und vorfreudig auf alles, was die Zukunft so bringen wird. Von einem Gendefekt mit dem Namen SPG50 hatten wir zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas gehört. Die ersten Monate mit Noemi waren so wundervoll und anstrengend, wie sie wohl für die meisten jungen Eltern sind. Bis auf große Unruhe beim Stillen und Schlafen, schien Noemi sich gut zu entwickeln. Recht bald zeigte sich auch ihre ausgeprägteste Charaktereigenschaft: ihre Fröhlichkeit und ihr unbändiges Lachen. Das fiel uns zum ersten mal so richtig auf, als Maxi ein rotes Stirnband trug, das Noemi unglaublich lustig fand. Noemi musste deswegen so laut und intensiv kichern, dass wir einfach mit lachen mussten.

Etwas stimmt nicht
Als Noemi ca. 8 Monate alt war, bemerkten wir dann erstmals, dass sich ihre körperliche Entwicklung verzögerte. Während andere Babys in diesem Alter zu robben begannen und zu krabbeln, konnte sich Noemi nur drehen. Anfangs waren wir noch nicht beunruhigt, denn wir wussten, dass jedes Kind sein eigenes Tempo hat und waren fest davon überzeugt, dass Noemi ein “ganz normales” Kind ist, das schon noch alles lernen wird. Über die Zeit wurde der Entwicklungsrückstand aber größer und erfasste peu á peu immer mehr Entwicklungsbereiche: Grobmotorik, Feinmotorik, Sprachentwicklung … Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns unserer Gefühle und Sorgen noch nicht wirklich bewusst: Im Kopf war es noch nicht angekommen – oder wollte noch nicht ankommen – aber tief in unserem Inneren begannen wir zu ahnen, dass mit Noemi doch nicht alles in Ordnung ist. Der Vergleich mit anderen Babys und Kleinkindern und der Austausch mit den anderen Eltern wurde immer schmerzhafter, da alle anderen Kinder Noemi immer mehr zurückließen. Die sicherlich gut gemeinten Sprüche anderer Eltern, Freunde und Familienmitglieder über die verschiedenen Entwicklungsgeschwindigkeiten und Beispiele eigener Kinder, dass manche “einfach etwas mehr Zeit brauchen”, konnten wir irgendwann nicht mehr hören. Denn aus einer unausgesprochenen Ahnung wurden ernsthafte Sorgen und der Alltag immer schwieriger. Der Besuch von öffentlichen Spielplätzen versetzte uns jedes Mal einen Stich ins Herz: Alle Kinder konnten so viel mehr als Noemi. Wir zogen uns zwar nicht zurück, waren aber am Glücklichsten, wenn wir alleine mit Noemi waren. Hier mussten wir uns nicht dem Vergleich mit anderen Kindern aussetzen.

Als sich nach ca. einem Jahr die Verzögerung auf immer mehr Entwicklungsbereiche ausdehnte, begannen wir die erste Behandlung von Noemi. Wir gingen zu einer sehr engagierten Physiotherapeutin, mit deren Hilfe Noemi mit ca. 14 Monaten krabbelte. Die Freudentränen flossen bei uns in Strömen! Dass Noemi ihr Leben lang auf durchgängige therapeutische Behandlung angewiesen sein wird, war uns natürlich noch nicht bewusst. Wir hatten immer noch die Hoffnung, dass alles schon irgendwie gut gehen wird.
Mit 26 Lebensmonaten dann ein lang erwarteter Meilenstein: Noemi machte im Urlaub ihre ersten eigenen Schritte. Endlich! Und das auch noch pünktlich zum Geburtstag ihrer Mama. Es war das schönste Geburtstagsgeschenk, das Maxi je bekommen hat.
Es war gut, dass wir an diesem Tag noch nicht wussten, dass Noemi das Laufen wahrscheinlich in ein paar Jahren wieder verlernen wird …
Auf die emotionalen Höhenflüge folgten aber regelmäßig und sehr zuverlässig immer wieder Tiefschläge. Noemi konnte jetzt zwar ein paar Schritte gehen, war dabei aber so unsicher, dass sie sehr viel stürzte. Durch Ungeschicklichkeit und der schwachen Muskulatur landete sie dabei regelmäßig auf ihrem Gesicht, und das ohne sich abstützen zu können. Diese hilflosen Stürze beobachten zu müssen, ist auch heute noch sehr schmerzhaft für uns.
In der Silvesternacht 2020 auf 2021 war es dann soweit: Wir saßen zu zweit zusammen und haben zum ersten Mal ausgesprochen, was wir eigentlich schon lange wussten – Noemi wird sich nicht normal entwickeln. Noemi wird ihr Leben lang erheblich beeinträchtigt bleiben.
Die Gewissheit
Bei einem hohen Prozentsatz der Kinder mit Entwicklungsstörungen wird die Ursache nie gefunden. Auch bei Noemi sah es zunächst danach aus.
Nach vielen unterschiedlichen Untersuchungen kam Anfang Dezember 2022 völlig unerwartet die Diagnose: HSP50.
Unsere behandelnde Ärztin war überfordert und konnte mit der Diagnose nicht viel anfangen. Maxi als studierte Biotechnologin begann das Internet zu durchforsten und entdeckte gleich am nächsten Tag die erschütternde Gewissheit: Es handelt sich um einen schweren neurodegenerativen Gendefekt mit fortschreitender Spastik und erheblicher Intelligenzminderung.

Hoffnung
Eigentlich würde man erwarten, dass man bei einer solchen Diagnose in ein tiefes Loch fällt. Dass es nicht dazu kam, haben wir zum großen Teil Terry Pirovolakis aus Toronto, Kanada zu verdanken. Noch an diesem ersten Tag fanden wir seine Website
und lernten, dass er mehr oder weniger im Alleingang in nur 2,5 Jahren eine Gentherapie für diesen extrem seltenen Gendefekt und seinen ebenfalls betroffenen kleinen Sohn hat entwickeln lassen. Gleich in der nächsten Nacht telefonieren wir mit Terry in Kanada. Er ist ein unglaublicher Mensch, der ein “Unmöglich” nicht akzeptiert und für seinen Sohn Alles in Bewegung setzte. Es waren wohl die emotionalsten Tage in unserem Leben. Wir wussten nicht, ob wir Lachen oder Weinen sollten. Einerseits hatten wir endlich die Gewissheit über Noemis Erkrankung, andererseits war diese Diagnose vernichtend. Und dann hatten wir plötzlich diesen Silberstreif am Horizont: es wird bereits intensiv an dem Gendefekt geforscht. Vielleicht können wir Noemi helfen?
Wir mussten dann zunächst die Diagnose mit weiteren Untersuchungen absichern, wechselten die Ärzte und stellten das therapeutische Setting für Noemi um. Seit diesem schicksalhaften Wintertag steht die Frage nach der Gentherapie im Raum: Wird Noemi in die klinische Studie für die Gentherapie aufgenommen? Erfüllt sie die medizinischen Voraussetzungen? Wollen wir die Gentherapie überhaupt durchführen? Wie sind die Risiken dieser Behandlung? Woher kriegen wir das ganze Geld, um die Studie zu unterstützen? Um unsere Chancen zu wahren, meldeten wir uns sofort für die klinische Studie an, es konnten aber zunächst aus finanziellen Gründen nur drei andere Kinder behandelt werden.
Um Noemi und all den anderen betroffenen Kindern ebenfalls die gentherapeutische Behandlung zu ermöglichen, wollen wir zusammen mit mehreren anderen Familien und gemeinnützigen Vereinen weltweit möglichst viel Geld einsammeln!
Wie geht es jetzt für uns weiter?
Wir wissen es nicht. Noemi ist diesen Sommer sechs Jahre alt geworden und ein fröhliches kleines Kindergartenkind. Sie ist körperlich erheblich beeinträchtigt, die zunehmend schlimmer werdende Spastik in ihren Beinen ist eindeutig erkennbar und macht ihr zu schaffen. Hinzu kommt die starke Intelligenzminderung sowie eine erheblich verzögerte Sprachentwicklung. Noemi befindet sich entwicklungsmäßig auf dem Niveau eines knapp dreijährigen Kindes. Wie lange sie sich noch weiterentwickeln wird, bis es zu einem Entwicklungsstillstand und dann ggf. zu einem Entwicklungsrückschritt kommt, wissen wir nicht. Da nur ca. 100 Patienten mit HSP50 weltweit bekannt sind, ist die Wissenslage noch zu dürftig.
Wir tun alles dafür, dass Noemi ihr vorhandenes Potential ausschöpfen kann. Und hoffen, dass sie mit der Hilfe und Unterstützung, auf die sie immer angewiesen sein wird, einigermaßen eigenständig und glücklich leben und Freunde finden kann.
Wir hoffen, dass die Gentherapie mit all ihren Risiken für Noemi eine Hilfe ist, und dass weiter an dieser Krankheit geforscht wird. Wir wollen jeden Tag mit Noemi genießen und uns mit ihr über all die Dinge freuen, die das Leben lebenswert machen.
